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Abiturientinnen und Abiturienten

Abiturrede 2002 von Björn Sarazin und Herrn Rode

Björn A: Verehrte Anwesende, liebe Jahrgangskollegen, wo man heute hinsieht, sieht man freudige Gesichter. Und das liegt nur zum Teil daran, dass wir heute endgültig unser Abitur bekommen. Zum großen Teil liegt es auch daran, dass wir hier nie wieder hin müssen. Aber warum freut uns das so? Sicher spielt die dauernde Kritik an Schule und Schülern eine Rolle. Ständig wird die Pisa-Studie zitiert. Fehlende Kenntnisse werden ebenso bemängelt wie fehlende Charakterstärke, Faulheit, Leistungsfeindlichkeit. Und immer wieder hört man etwas von einer "Spaßgesellschaft". Von der "Generation @loeschen@", die nichts mehr tut, als vor dem Computer sitzen und keine Allgemeinbildung hat. Und von Lehrern hört man immer wieder: "Die gleiche Klausur habe ich vor 10 Jahren schon einmal gestellt und da ist sie viel besser ausgefallen". Oder auch: "Ihr seid ein fürchterlicher Jahrgang". Sind wir das? Sind wir faul und dumm?

Rode 1: Ja, wahrscheinlich. Ich muss immer die einfachsten Beispiele wählen. Fünfmal, fünfmal muss ich im Unterricht alles erklären und darf keine Rechnungen benutzen, die über das ganz kleine Einmaleins hinausgehen.

Björn B: Also Herr Rode! Das können Sie doch nicht machen! Vor all den Leuten... Und vor allem: Das stammt doch noch nicht mal von Ihnen! Das haben sie nämlich abgeguckt! Das war ein Zitat vom berühmten Mathematiker Hilbert - und das hat er schon 1920 gesagt!

Rode 2: Ja, stimmt schon. Die Absicht dieses Zitates war ja auch nicht, mit seiner Anwendung von meiner Belesenheit zu künden sondern vor allem, zu zeigen, dass die Klagen über die Schüler so alt sind wie die Schule selbst.

Björn C: Achso! Ja, dann muss es diese Klagen wohl einfach geben. Aber worauf kommt es dann wirklich an? Also, was uns Schülern die Schule gelegentlich tatsächlich unerträglich macht, sind langweilige, eintönige Stunden, in denen man dasitzt und sich fragt: Was soll ich hier? - nicht nur in den Freistunden. Dass dieser Zustand eintritt, ist natürlich. Die Lehrer müssen täglich Qualität liefern - jeder, der sich das Fernsehprogramm anschaut und sieht, welche Sendungen es sind, die täglich laufen, wird sagen, dass das offenbar nicht möglich ist - wenn man einmal von der Tagesschau absieht. Dummerweise sind Unterrichtsstunden demzufolge häufig auch genauso amüsant wie die Tagesschau.

Rode 3: Vielleicht rühren die Klagen ja tatsächlich daher, dass wir Lehrerinnen und Lehrer nicht nur täglich Qualität liefern müssen, sondern auch noch Jahr für Jahr die gleiche Sendung wiederholen. So schreiben wir denn den jeweils nachfolgenden Schülerinnen und Schülern gleich alle Fehler mit zu, die ihre Vorgänger an dieser Stelle jemals gemacht haben. Abhilfe schafft vielleicht die Haltung von Sommerfeld. Er hat für seine Mitarbeit an der Entwicklung eines modernen Atommodells den Nobelpreis erhalten. Vor einer neuen Vorlesung wurde er etwas neidvoll gefragt, ob er denn das Thema auch beherrsche. Er antwortete. "Nein, sonst würde ich ja keine Vorlesung darüber halten." Vielleicht täte es uns Lehrern gut, an unseren Unterricht als an etwas jeweils Neues heranzugehen, so als verstünden wir nichts davon. Diese Einstellung würde vielleicht auf beiden Seiten Interesse wach halten und Abgegriffenheit vermeiden. Sie wäre aber sicher leichter durchzuhalten, wenn wir sicher sein könnten, dass wir nicht gleich weggezappt werden.
Und zum Stichwort "amüsant". Da fällt mir der englische Kollege Coolidge ein, der meint: I try to make my students laugh. And when their mouth is open, I give them something to crunch.

Björn D: Stellt sich allerdings noch die Frage: Was soll der Lehrer den Schülern zu kauen geben? Erfahrungsgemäß ist eine gemischte Kost am bekömmlichsten. Es bringt nichts, jeden Tag etwas Exquisites aufzutragen. Ein gutes belegtes Brot ist manchmal besser als Kaviar. Hin und wieder dagegen trägt ein süßes Sahnestückchen sicher zur Verfeinerung bei. Und mal (aber nicht zu oft!) darf es auch als Hausaufgabe ein Kaugummi geben. Und ab und zu sollte man die "neuen Unterrichtsmethoden", die verlangen, dass sich die Schüler in Eigenarbeit das Brot schmieren und Gruppen bilden, die am besten erstmal noch das Getreide selbst anpflanzen, mal über Bord werfen und kann eine schnelle, unkomplizierte Infusion durch den behandelnden Lehrkörper sinnvoll sein.

Rode 4: Das könnte jetzt aber missverstanden werden, es klingt doch etwas zu sehr nach dem bequemen Nürnberger Trichter oder gar nach Zwangsernährung. So kann es nicht sein, jedenfalls nicht als dauerhaftes Prinzip. Eigenbeteiligung bei der Nahrungsaufnahme seitens der Schüler muss schon sein - und wird sich auf die Dauer auch als lustvoller erweisen, als immer nur Infusionen zu bekommen. Manchmal können wir Lehrer schon verzweifeln, wenn wir bemerken, dass einige Schüler ihren Hunger schon woanders gestillt haben, bevor sie zu uns kommen. Und die Tischmanieren sind ja auch nicht immer die besten. Aus Kreisen der Kultusministerkonferenz hört man übrigens, dass demnächst mehr getestet und standardisiert werden soll, um die Qualität zu sichern. Ich fürchte, dann wird es zugehen wie bei McDonalds: oder StarBucks: überall auf der Welt Essen gleicher Qualität - aber leider ohne Individualität. Übrigens ist wegen der Ernährungsgewohnheiten einer der ganz großen Physiker, mit dessen Ideen wir uns beschäftigt haben, nämlich Einstein, als junger Mann vor der Schule regelrecht geflohen. Ich denke, zwar nicht aus Angst vor einer Infusion, auch nicht vor dem Nahrungsangebot, das sicher reichhaltig war - wie er selber sagte, eher wegen der Haltung, in der er sein Essen einzunehmen gezwungen wurde. An der neuen Schule in der Schweiz fühlte er sich sichtlich wohl und lobte den ruhigen Ernst, mit dem sich dort Lehrer und Schüler einer gemeinsamen Sache widmeten, sozusagen gleichberechtigt an einem Thema arbeiteten.

Björn E: Für solche schweizer Verhältnisse müssten wir Schüler allerdings die teilweise eingenommene Position verlassen, dass Lehrer nur vertrottelte Alte sind, die unfähig sind, einen Videorecorder zu bedienen und die auf einer CD die B-Seite suchen, und sehen, dass die Lehrer einem wirklich etwas geben können - außer Noten Die Lehrer hingegen müssten die teilweise eingenommene Position verlassen, sie wüssten schon alles oder könnten durch die Schüler und ihre neue Sicht der Dinge nichts mehr dazulernen.

Rode 5: Ja, in der Tat. Zwischen Schülern und Lehrern ( ich sag das jetzt mal geschlechtsneutral) geht es irgendwann zu, wie in einer alten Ehe. Man kennt sich, man nervt sich, man hat sich nichts mehr zu sagen, es kommen keine neuen Impulse. Die Schule bietet nichts neues mehr, keinen Reiz, keine Anregung.
An so einem Punkt können sich zwei Eheleute scheiden lassen. Auch Schüler und Schule tun das gelegentlich. Bei den heute anwesenden Schülern haben beide Seiten darauf verzichtet - auch wenn 13 Jahre länger sind, als die meisten Ehen halten.
Wenn keine Scheidung, was dann? Die Frau könnte sich zur Belebung der Beziehung einer Schönheitsoperation unterziehen. Der Mann könnte ein Cabriolet für gemeinsame Ausflüge anschaffen.

Björn F: Aber eine Beziehung lässt sich nicht durch die Anschaffung eines neuen Autos verbessern - genauso wenig wie Schule durch einen neuen Beamer. Eine Beziehung wird wohl meist nicht besser, wenn die Frau sich liften lässt - so wie Schule nicht besser wird, wenn sie einen Internetzugang bekommt. Und eine Beziehung wird auch nicht besser, wenn das Paar zum Schützenkönigspaar des Ortes ernannt wird - Schule nicht durch eine Ernennung zur Expo-Schule.

Rode 6: Das sind ja auch lauter mehr oder weniger materielle Remeduren. Und gerade uns Physikern sagt man ja nach, wir seien im Materiellen verhaftet. Stimmt aber nicht, Einstein ist mein Zeuge, wenn er gerade als Physiker erkennt: "Der Intellekt hat ein scharfes Auge für Methoden und Werkzeuge, aber er ist blind für Ziele und Werte." Ob denn die gemeinsam verbrachte Schulzeit gelungen ist, werden wir also weniger an der Anzahl der Referate mit Powerpoint - Präsentationen zu messen haben, die jeder und jede von Ihnen zubereitet hat, sondern vor allem an der Art unserer täglichen Begegnung und den Werthaltungen, die Sie und wir täglich erkennbar vertreten oder denen wir implizit folgen. Welche das eigentlich sein sollten und welche wir wieder stärker betonen müssten, darüber nachzudenken zwingt uns der Blick auf aktuelle Nachrichten, nicht erst seit den Ereignissen in Erfurt.

Björn G: In der Tat haben auch wir - die Schüler - uns als etwas sehbehindert für manche Werte erwiesen, als es darum ging, die Lehrer in Stichworten für das Abibuch zu charakterisieren - die bekannte Folge davon ist ihr Fehlen in diesem Heft. Da es aber ja auch ein Wert ist, einen Fehler einsehen zu können, möchte ich mich an dieser Stelle im Namen des gesamten Jahrgangs bei allen Lehrern ganz herzlich für diese Vorgänge entschuldigen. Und ich möchte sie zugleich bitten, sich dort Geschriebenes nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen. Denn alle Gemeinheiten sind gemeinhin nicht so gemein gemeint.

Rode 7: Ziele und Werte verlieren wir alle gern aus dem Auge, weil wir wissenschaftliche Erkenntnisse, kumulierte Ergebnisse und technische Hervorbringungen - je nach Unterrichtsfach - für das Wichtigste halten. Aber gerade die im Augenblick viel zitierten Schul - Studien mahnen uns hier zu einer Änderung unserer Sichtweise. Die dort geprüfte "scientific literacy" besteht zu großen Teilen gerade daraus, zu erkennen, dass wissenschaftliche Ergebnisse und Theorien stets vorläufig sind.

Björn H: Unser Wissen ist Stückwerk. Sagt die Bibel. Das haben wir in Religion gelernt. Man könnte auch sagen: Das, was man gemeinhin als "Bildung" bezeichnet, ist ein Flickenteppich aus lauter Theorien. Und in Physik haben wir gesehen, dass es immer dann einen Triumph der Wissenschaft darstellt, wenn sich zwei besonders häßliche kleine Flicken, in einer zerfledderten Ecke des Teppichs durch einen größeren ersetzen lassen - wie bei der Vereinigung von himmlischer und irdischer Bewegung durch Newton. Doch das Ziel, am Ende einen einzigen, wunderschönen, zusammenhängenden Teppich zu erhalten, wird wohl nie erreicht werden. Schon allein deshalb nicht, weil hinter jeder beantworteten Frage immer unendlich viele unbeantwortete liegen. Aber vielleicht ist es wichtiger und sinnvoller, das Prinzip zu verstehen, wie dieser Flickenteppich entsteht und sich wandelt, als alle seine einzelnen Muster und Stickereien zu kennen oder gar auswendig zu lernen und vielleicht sollte sich die Schule darauf besinnen.

Rode 8: Also, jetzt ist aber auch mal genug der ganzen guten Ratschläge und Zeit zum Schluß zu kommen!! Es fällt mir leicht, das Stichwort Flickenteppich aufzunehmen. Denn wenn ich mich an Ihren Jahrgang erinnern werde, sehe ich auch einen Flickenteppich Ich wünsche Ihnen einen erfüllten Lebensweg, persönliches Glück, Gesundheit und Erfolg, aber auch die rechte Balance zwischen Anstrengung und Entspannung, antreibender Neugier und freudiger Erfüllung. Vor allem aber möglichst vielen von Ihnen die Freude, die sich ergeben wird, wenn Sie hinter einer lange beantworteten Frage eine Kette interessanter neuer und unbeantworteter auftauchen sehen.

Björn I: Wenn Herr Rode an dieser Stelle abschließend diesen Jahrgang betrachtet hat, so muss ich nun wohl abschließend diese Schule betrachten. Die Schule - das Tal in dem wir gemeinsam groß geworden sind und das wir nun in verschiedene Richtungen verlassen, um unsere eigenen Wege zu gehen. Ein Jammertal? Sicher nicht! Schon eher ein alles in allem recht liebliches Tal, dieses Jojo-Tal. Und ich sehe dieses Tal vor mir, sehr genau: Eingerahmt wird es von hohen Freybergen. Von diesen Freybergen rauscht ein Fehrenbach hinab ins Tal und fließt in einen Teichert, an dem eine Müllerin sitzt. In den Böhmen sieht man die Affen hausen, ein Hase glinzt aus seinem Bau hervor und an den Hängen der Freyberge springen die Ziesel umher. Überall sieht man Haftendornensträuche stehen, und wenn man nicht aufpasst - au-licke! sticht man sich an einem. Und nebenan besorbt ein Ackermann sein Feld und ruft einem hintersinning "Grüß Gott!" zu. Ohh -krent, was für ein schönes Tal. Am Teichertufer spielt ein Orchester ein ellenlanges Stück von Wagner und endet mit einem Tuschling. Ganz schön wyrrwas. Gleich daneben kann man sich bei einer Krämerin einen fleischigen Boerger, eine Currywurst, die sehr wyrzeck schmeckt, oder ein Eis mit Sarnes kaufen und in seinen Rachner schieben. In der ferne sieht man auf einem Freyberg eine Homburg liegen. Und überall dieser wunderschöne Radewald. Schade nur, dass er oben kahl und kähler wird.

Ich danke allen genannten und nicht genannten Bestandteilen dieses Tales, allen Lehrerinnen, Lehrern und Eltern für ihre Mühe und ihr Engagement. Ich danke aber auch allen Mitschülerinnen und Mitschülern für eine Zeit, die doch immerhin so schön war, dass ich jetzt mit zwei weinenden Augen gehe - und einem lachenden Mund allerdings. Möge dieses Jojo-Tal nicht so schnell gerodet werden. Ich sage danke, ich sage auf Wiedersehen - und ich sage: Ich komme wieder - aber dann als Lehrer.

M. Rode/Björn Sarrazin, 2002




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Namen der Abiturientinnen und Abituriennten

nach oben Autoren: Michael Rode/Björn Sarrazin Datum: Juni 2002. Letzte Änderung am 27. Juli 2004
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