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Programm der Entlassungsfeier vom 1. 7. 06
Abiturienten 2006
Abiturrede einer Schülerin und eines Schülers

Abiturrede eines Lehrers 2006

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Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
verehrte Anwesende,

es ist eine große Ehre, eine Rede wie diese halten zu dürfen - besonders im Jahre 600 des Bestehens des Johanneums. Die Ehre ist verbunden mit einer großen Versuchung, nämlich an dieser Stelle so mal eben alles nachzuholen, was die Bildungspolitik oder die Schule oder der individuelle Unterricht an ethischer, gesundheitlicher, Verkehrs - oder sonstiger Erziehung tatsächlich oder vermeintlich versäumt hat.
Keine Angst, ich werde dieser Versuchung nicht erliegen.

Vielmehr möchte ich ein einziges Zitat zur Basis meiner kurzen Rede machen. Es stammt von einem amerikanischen Nobelpreisträger, es versteht sich von selbst: für Physik.
Es lautet:
Ich möchte nicht, dass jemand (unser) Haus verlässt voller Bewunderung, wie schlau ein anderer ist, sondern mit dem Gefühl, es selber machen zu können.

In diesem Zitat versteckt sich für mich viel von dem, was virtus (zu deutsch: Tugend) auch meinen sollte, die das Johanneum ja neben doctrina (Gelehrsamkeit) und Humanitas (Menschlichkeit) sowohl im Schilde als auch im Leitbild führt.
Dieses Haus ohne Bewunderung verlassen? Das ist doch aber nicht in Ordnung: schließlich sind wir jetzt 600 Jahre alt, haben viele berühmte Ehemalige, sind als Nation Papst geworden und im letzten Jahr Nobelpreisträger und nicht mehr unwahrscheinlich schaffen wir es sogar ins Finale.
Nicht bewundern heißt für mich nicht, fremde Leistung nicht anzuerkennen. Das wird jederzeit nötig sein in einer arbeitsteiligen Welt und wegen unserer nur kurzen Lebensspanne, verglichen mit der Geschichte. Viele unserer modernen Errungenschaften können nur deswegen in so rascher Folge und gerade jetzt entstehen, weil unzählige verschiedene Menschen in vorangehenden Generationen oder anderenorts Bausteine beigetragen haben. Isaac Newton - schon wieder ein Physiker - beschrieb diese Tatsache mit den Worten: ich bin mir jeden Tag aufs Neue bewusst, dass ich nur deswegen ein Stück weiter sehen kann als meine Vorgänger, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe. Auf wessen Schultern man steht, dessen Leistung soll man erkennen und anerkennen - schon, damit man nicht glaubt, eine hohe Stellung auf der Leiter sei eigenes Verdienst. Es könnte ja immerhin sein, dass man einfach nur schon oben geboren wurde.
Unser Zitat meint also nicht Verweigerung von Anerkennung - aber es meint sehr wohl falsche Bewunderung. Falsche Bewunderung kann lähmen.
Drei Beispiele können uns zeigen, wo und wie es dazu kommt.
- Wenn in unseren Medien über Wissenschaft berichtet wird, hören wir oft: geniale Entdeckung, kluger Schachzug, pfiffiger Trick und sehen dazu beeindruckende Bilder. Hintergründe zeigt man uns nicht. Und gar nicht deutlich wird, dass eine große Entdeckung 1% Inspiration und 99% Transpiration bedeutet hat, wie Einstein treffend sagte. So sehen wir nur die Gipfel des Erreichten und lassen uns berechtigter Weise lähmen von dem Gefühl: das schaffe ich nie.
- Ihr Abiturzeugnis zeichnet Sie aus und macht Sie zum Mitglied der Spitzengruppe Ihres Altersjahrgangs. Bald, z.B. wenn Sie an eine Universität gehen, werden Sie merken, dass Sie dort mit vielen anderen klugen Köpfen zusammen kommen. Dann könnte für Sie frustrierend sein, dass ziemlich genau die Hälfte von Ihnen bei den ersten Klausuren oder Prüfungen unterhalb des Mittelwertes abschneiden wird.
Das kann lähmen. Aber wir hätten den Stochastikunterricht nicht gebraucht, wenn uns nicht bei realistischem Nachdenken klar würde, dass es eben eine Eigenschaft des Mittelwertes ist, die wir eben beschrieben haben: Egal, wie sehr sich alle anstrengen und wie elitär die Gruppe ist, in die man gerät: immer wird etwa die Hälfte der Mitglieder unterdurchschnittlich sein. Bleibt dann doch nur die Bewunderung der Schlauheit der anderen?
- Überall in unseren Medien begegnen uns gut aufbereitete Selbstdarstellungen von Unternehmen oder deren Exponenten. Keine dieser Darstellungen zeigt irgendwelche Schwächen. Weil sie etwa nicht vorhanden wären? Diese Tendenz setzt sich fort in den Formulierungen so manches Stellenangebots: Bis 26, promoviert, vier europäische Sprachen, langjährige Auslandserfahrung im Beruf. Hier wäre man in der Versuchung, gelähmt zu werden, wenn man denn Image mit Substanz verwechselte.

Bewunderung für andere kann lähmen. Sie kann uns dazu verleiten, die Sache von vornherein verloren zu geben.
Zu Virtus, so wie ich Sie verstehe, passt das nicht.

Aber was kann man angesichts des scheinbar Unerreichbaren vor Augen tun? Richard Feynman - schon wieder ein Nobelpreisträger - riet seinen Studenten: suchen Sie sich gleich zu Beginn etwas, was Sie gerne tun, worüber Sie gerne etwas wissen wollen und setzen Sie sich damit auseinander, versuchen Sie, in diesem Gebiet alles herauszufinden, was Sie erreichen können. Es wird dabei zu einem Etwas, über das Sie gut bescheid wissen, vielleicht sogar exklusiv bescheid wissen und das Sie deswegen umso lieber tun.
Und plötzlich sind Sie in diesem, selbst gewählten Bereich Mitglied der oberen Hälfte, zählen vielleicht gar zur Spitze. Und auf Ihre Weise einzigartig.
Ich halte es für nicht unwahrscheinlich, dass viele von Ihnen genau diesem Mechanismus bei der manchmal frustrierenden, am Ende aber doch geglückten Arbeit an Ihrer Facharbeit intensiv begegnet sind. Jedenfalls denke ich gern an die mit Mutter - oder Vaterstolz vergleichbaren Gesichtsausdrücke, mit denen Sie am Tag X Ihre Arbeiten, als seien es Babies hier abgeliefert haben. An diese Erfahrung kann man anknüpfen. Sie werden bemerken: Bewunderung verbraucht sich und wird nach einigen Tagen schal, Virtus in Form eigenen Tuns (freilich nicht ohne Transpiration) erzeugt Befriedigung, die wächst und sich nicht verbraucht.
Freilich darf nicht verschwiegen werden: manchmal braucht man ein gutes Gedächtnis, sich daran zu erinnern, wie gut es damals war, als man dies oder jenes so richtig intensiv beackerte und schließlich der Knoten geplatzt war. Gerade in der Wissenschaft können die Intervalle zwischen den großen Erfolgsgefühlen lang sein. Dann heißt virtus auch: an die eigene gute Erinnerung glauben und sie zum Antrieb nehmen.


Es wäre mein Wunsch, wenn es uns während Ihrer Schulzeit wenigstens hin und wieder gelungen wäre, Ihnen das gute Gefühl, das von erfolgreichem Selber - Tun kommt, zu ermöglichen.

Virtus/Tugend in diesem Sinne wäre dann nicht mehr eine weitere dieser schalen, bedrohlichen und langweiligen Moralforderungen in "Du-sollst-Form", sondern eine Haltung der Welt, ihren Geheimnissen und Herausforderungen gegenüber, die bei konsequenter Ausübung ihre Belohnung in sich trägt.

Wenn es uns gelungen wäre, Ihnen dies glaubhaft zu machen, werden Sie sich dem anschließenden Appell nicht verschließen.
Für viele von Ihnen wird der Moment kommen, an dem Sie selbst eine in irgendeiner Form bemerkenswerte Leistung vollbracht haben, auf welchem Gebiet und welcher Art auch immer. Die meisten von Ihnen werden in die Lage kommen, andere anleiten, unterweisen, belehren oder ausbilden zu müssen. Wenn es denn soweit ist: bitte erinnern Sie sich an unser Zitat. Dann sind Sie es, die andere dazu veranlassen können, nicht in Bewunderung zu erstarren ( auch nicht wenn es schmeichelhaft für Sie wäre). Dann sind Sie es, die Andere dazu ermutigen und befähigen sollten, etwas selbst zu tun. Erinnern Sie sich an gelungene Beispiele aus Ihrer eigenen Schulzeit und auch an misslungene, vielleicht Gegenbeispiele oder an Vorbilder! Setzen Sie zu unser aller Nutzen alles daran, den jeweils anderen das Gefühl zu vermitteln, es selber tun zu können. Sicher wird Sie das gelegentlich stark fordern, denn dazu gehört auch die Pflicht, sich verständlich auszudrücken und Unverständnis mit Geduld zu begegnen.


Abschließend bleiben mir drei Bitten:
- behalten Sie uns in guter Erinnerung und kommen Sie gelegentlich und heile wieder
- versuchen Sie in Ihren neuen Bezügen sobald wie möglich
und soviel wie möglich, selbst zu tun
- und die Physikerinnen und Physiker unter Ihnen erwarten nach zwei Jahren LK - Unterricht jetzt als dritte Bitte "bitte stellen Sie die Stühle hoch". Das sei Ihnen heute erlassen. Stattdessen genießen Sie den festlichen Tag.

Ihnen allen wünsche ich ein erfolgreiches, gelingendes und glückliches Leben. Seien Sie gewiss, dass ich viele Erlebnisse mit Ihnen, lustige, alltägliche, ernste und fachbezogene und vor allem auch Sie als einzelne Menschen in guter Erinnerung behalten werde. Auf Wiedersehen, hoffentlich nicht erst zur 1000 - Jahr - Feier.

nach oben Autor: Michael Rode Web: Hannes Kruse Datum: Juli 2006. Letzte Änderung am 18. Juli 2006
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