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Im den alten Schätzen des Johanneums als "Musterarbeit" vorgefundener Aufsatz aus dem Jahre 1860.

Der Geburtstag


Schon lange, lieber Karl, habe ich Dir versprochen, einmal an Dich zu schreiben, doch es nicht gethan, da sich mir aber trifft, daß ich dir etwas ür unsere Familie höchst Wichtiges mitzuteilen habe, so verfehle ich nicht, Dir einige Zeilen zu senden. Es ist nämlich () uns Vaters Geburtstag gewesen, und da Du Dich stehts für unsere ganze Familie so sehr interessirt hast, so glaube ich, daß Dich die Beschreibung desselben nicht langweilt. Schon einige Tage vor dem Feste merkte man, daß in unserem Hause Bedeutendes vor sich gehe; manchmal wurde leise unter den Geschwistern () etwas verabredet und Geschenke bestimmt. Ein jeder hatte einen Gegenstand, war es auch nur eine Kleinigket, zu verschenken und kaufte das Geschenk ein. Von dem Gärtner wurde Buchsbaum und Immergrün geholt zu einer Guirlande an des lieben Vaters Wohnstube () und zu einem Kranze, um ihn selbst damit zu schmücken. Am Geburtstagsmorgen, am 20. Mai, stand ich schon früh auf, und befestigte die Guirlande an der Stubentür; späterhin ging ich zum Gärtner, um zwei Blumen, eine blühende rote Rose und eine Camellie mit gelbweißen Knospen zu kaufen. Nachdem es etwa neun Uhr geworden war, erschien der Vater in der Wohnstube. Die ganze Familie hatte sich hier in ihrem Sontagsstaate [versammelt] und beglückwünschte das Geburtstagskind zu dessen fünfzigsten[m] Geburtstage. Der Vater war ganz gerührt durch die Feier, mit der sein Geburtstag begangen war; die Guirlande hatte ihn erst daran erinnert, daß sein Geburtstag sei, sagte er uns. Nun setzten wir alle uns um einen Tisch und verzehrten ein herrliches Morgenbrot (). Das schöne Wetter und die grünende Natur stimmete uns alle froh und erhöhte die feierliche Bedeutung des Festes. Die ganze Familie begab sich nun in den Garten und setze sich in die große schattige Laube von Lindenbäumen (), in der Du, lieber Karl, im letzten Sommer so oft im traulichen Kreise der Unsrigen Kaffee trankst. Der kleine Grasplatz, der sich in der Mitte des kleinen Gartens befand, war schon grün und mit hohem Grase bewachsen; die Äpfel- und Birnenbäume hatten Blätter und Blüthen und Schneeglöckchen und Crocus zeigten ihre weißen und gelben Blüthen, kurz, die ganze Natur stand in ihrer vollen Entwicklung. Der liebe Vater hatte sich von seinen Geschäftsarbeiten freigemacht und bestimmt, daß eine Partie zu Wagner nach Böhmsholz gemacht werden solle. Mit vieler Freude sahen wir der Fahrt entgegen, da wir alle uns einen vergnüglichen Nachmittag zu machen hofften. Während () die ganze Familie noch im Garten saß und sich darüber unterhielt, wie sie den Nachmittag am besten zubringen wollte, war es elf Uhr geworden. Alle kehrten wir nun ins Haus zurück und begaben uns in die Wohnstube, während die Mutter des Vaters Geschenke im Nebenzimmer aufkramte. Nun wurde die Thür geöffnet und alle gingen, der Vater voran, in die Geburtstagsstube. Die beiden jüngsten Brüder setzten ihm einen schönen Kranz von Immergrün auf den Kopf, während die kleine Schwester Emma ihm einen Glückunsch zum Geburtstage überreichte. Der liebe Vater war ganz gerührt über die vielen Beweise der Liebe, die ihm zu Theil geworden waren und konnte seinen Dank nicht genug in Worten aussprechen. Er erhielt recht viele Geschenke; von der lieben Mama einen Papierkorb () und eine warme Fußdecke , um sie unter seinen Schreibtisch zu legen, von Bruder Eduard einen Durchläufer und ein Paar schwarze Handschuhe und von mir die beiden Blumen, welche in ihrer vollen Pracht standen. Was den lieben Vater recht erfreut hat, war, daß einige Briefe von Verwandten nebst kleinen Geschenken ankamen. Indem noch die Briefe vorgelesen wurden, kamen einige gute Bekannte, um ebenfalls ihren herzlichsten Glückwunsch dem Vater auszusprechen; sie fanden, daß die Geschenke sehr niedlich und passend ausgewählt seien. Nachdem die Glückwünschenden wieder weggegangen waren, setzten wir uns an die reich besetzte Tafel. Es wurde auf Papas Gesundheit getrunken und alle wünschten, daß dieses Fest noch recht lange im frohen Beisammensein der ganzen Familie möchte gefeiert werde. Bald nach drei Uhr fuhren wir nach Böhmsholz. Die Luft war ziemlich heiß [,] als wir ins Holz kamen. Dort herrschte eine angenehme Frische. Überall nahm man für wahr, wie die Natur in ihrer vollen Entwicklung stand. Im Wirtshaus war es so voll, daß wir uns unter den Bäumen vor dem Hause hinsetzen mussten um dort unseren Kaffee zu trinken. Nachdem wir uns wieder erquickt hatten, spielte die Jugend allerlei Gesellschaftsspiele, wie: Müller von hinten, Blindekuh. Es machte sehr viel Spaß, wenn beim Müller von hinten die beiden, welche sich zu erreichen, ohne vom Müller erfasst zu werden, strebten, erst weite Umwege unter den Bäumen machen mußten, und auch noch einmal stolperten, ehe sie zueinander kommen konnten. Bald jedoch waren wir dieses Spieles übergrüssig, da es sehr ermüdet, wie du dir, lieber Karl, wohl denken kannst, und gingen in den Holz wegen langsam spazieren. Wir gelangten nach einer Stunde zum Wirtshause zurück und ließen uns nach der Ermüdung und dem Hunger, den wir fühlten, ein Abendessen im Freien herrlich munden. Es brach nun bald der Abende herein und wir kehrten deshalb nach Hause zurück. Der Himmel glänzte wundervoll und angenehme Kühle wehte uns auf dem offenen Wagen entgegen. Wohl behalten und guter Dinge kamen wir im Hause an und begaben uns alle, nachdem wir eine Partie Whist gespielt hatten, zur Ruhe, da die Aufregung des Tages alle sehr ergriffen hatte. Du siehst, lieber Karl, daß wir denb Geburtstag froh hingebracht haben; ich will hoffen, Daß wir alle noch manches Jahr, so es Gott gefällt, den Tag ebenso froh, wie heute, und auch einmal das Vergnügen haben, an dem Tage dich bei uns zu sehen. Ich soll dir herzliche Grüße von allen Geschwistern sagen; die lieben Eltern freuen sich,Daß es Eurer ganzen Familie wohl ergeht, und lassen auch vielmals grüßen. Möge auch bei Euch allen das Glück des frohen Beisammenlebens noch recht lange stattfinden. Dies ist der aufrichtige Wunsch deines dich liebenden

Bernhard Niederstadt


Lüneburg, den 26. März 1860


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Entziffert und Web: Oliver Thomas Kl. 7LB [Abi 2008]  Letzte Änderung am 26. Juli 2004
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