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Fächer Deutsch Kafka |
Franz Kafka: "Der Verschollene", RomanDas Motiv der Arbeit
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Es wird deutlich, daß man durch einen kleinen Fehler, der eigentlich keiner gewesen
sein muß, seinen Job sofort verlieren kann: Als Karl nur für einige Minuten seinen
Posten verläßt, um Robinson in den Schlafsaal der Liftjungen einzuschleusen und dort zu
verstecken, findet er bei seiner Rückkehr seinen Lift besetzt vor. Der Junge, den er
gebeten hat, ihn während seiner kurzen Abwesenheit zu vertreten, da er ihn auch zwei
Stunden während des größten Betriebes ausgeholfen habe, erklärt, daß es nicht
ausreiche, für eine Vertretung zu sorgen, man müsse es dem Oberkellner melden. Als
dieser nämlich am leeren Lift vorbeigekommen sei, sei er wütend geworden und habe sofort
einen Ersatz geordert. Der Junge rät ihm, sofort ins Büro des Oberkellners zu gehen, um
sich zu entschuldigen. Er solle aber nicht als Entschuldigung vorbringen, daß er
denjeniegen, den er um Vertretung gebeten habe, selbst einmal längere Zeit vertreten
habe.
Diese Aussage erzeugt den Anschein, als wäre der Junge selbst ohne Erlaubnis
fortgeblieben und als würde er Karl somit nur schamlos ausnutzen. Denn dieser hat ihn
"zwei Stunden während des größten Verkehres" (S.170) vertreten, der andere
ihn nicht einmal für wenige Minuten. Um es in einem modernen Wort auszudrücken: Es
erinnert an "Mobbing". Aber Karl bemerkt es nicht, weil er zu unerfahren ist.
Als Karl das Büro des Oberkellners betritt, wird ihm sofort bewußt gemacht, wie
unwichtig ein Liftboy für den Oberkellner ist. Dieser nämlich sitzt "gerade vor
seinem Morgenkaffee"und sieht auf ein Verzeichnis , auf Karl blickt er nur flüchtig.
Anfangs hält Karl das Verhalten des Oberkellners für ein gutes Zeichen, wird dann aber
vom Gegenteil überzeugt. Der Oberportier schaut ihn sofort böse an und zeigt ihm, daß
er ihn nicht sonderlich mag.
Spätestens als der Oberkellner aufspringt und Karl laut anschreit, muß dieser erkennen,
daß die vorherige Beschäftigung des Oberkellners nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen ist
und sein Gebrüll und seine Übermacht noch betont. Anfangs möchte dieser keine
Entschuldigung von Karl hören. Er macht ihm klar, wie verheerend es ist, seinen Posten zu
verlassen.
Der Portier erniedrigt Karl noch mehr, indem er dessen Livréejacke glattstreicht und ihm
damit auf eine kleine Unordentlichkeit besonders aufmerksam macht.
Durch sein anschließendes Hin- und Hergehen im Zimmer schüchtert der Oberkellner Karl
noch mehr ein und hebt dadurch, daß er dem Portier den Namen eines wohl wichtigen Gastes
nennt, der gerade den Fahrstuhl benutzen wollte, als Karl weggelaufen ist, die Schwere
seiner Schuld hervor, indem der Oberportier Karls Tat als "schrecklich"
bewertet, wird sie noch betont. Dann bringt er gleich noch einen zweiten Anklagepunkt vor,
nämlich den, daß Karl ihn nie grüße, und dramatisiert diesen. als er Karl erklärt,
wie er sich ihm gegenüber zu verhalten habe, erniedrigt er ihn und zeigt, wie wertlos er
ist. Dann beginnt er auch einen Satz mit"In deiner nächsten Stellung", so als
wäre Karl schon entlassen. Sowohl Oberkellner als auch -portier deuten Karls Aussagen
immer zum Schlechten, so daß er am Schluß vor der Oberköchin, völlig eingeschüchtert,
nichts mehr zu seiner Verteidigung hervorbringt.
Durch sein Telefonat und dem anschließenden Gespräch mit der Oberköchin macht der
Oberkellner Karl auch noch ein schlechtes Gewissen und sagt, daß er ihre Anteilnahme gar
nicht verdiene und sie enttäuscht habe. Außerdem bezeichnet er ihn als
"unbrauchbar".
Es werden immer mehr Anklagepunkte gegen Karl vorgebracht. In seinen Erklärungen sehen
Oberkellner und -portier aber nur das Schlechte, sodaß er sich verzettelt und
widerspricht, was dazu führt, daß selbst die Oberköchin nicht mehr von seiner Unschuld
überzeugt ist.
Außerdem wird Karl vom Oberportier beleidigt ("miserabler Junge",
"auffallende glatte Fratze", "ausgegorener Lump").
Vom Oberkellner erfährt er, daß eine Verteidigung unmöglich sei, da der Aufwand viel zu
groß sei und das Hotel lahmlegen würde. Ihn nur zu entlassen, wäre das reinste
Geschenk, das er nur der Oberköchin zu verdanken habe. Als der Oberkellner sein Büro
verläßt, wird Karl auch noch körperlich vom Oberprtier gefoltert, und er macht sich
über ihn lustig. Selbst die Liebe des Kellners zur Köchin verhindert seine Entlassung
nicht. Doch bewirkt sie wohl, daß er nur seinen Posten, nicht aber seine Freiheit
verliert.
Die Methoden der Machtausübung werden durch die Dauer des Verhörs von einer
Dreiviertelstunde noch verstärkt. Daß sowohl Oberköchin als auch Kellner mit dem Urteil
einverstanden sind, zeigt sich auf S. 196 ("Wie der Oberkellner die Hand der
Oberköchin wie im Geheimen umfaßte und mit ihr spielte").
Die anschließende Folter in der Portiersloge - ob der einzige Grund hierfür Karls
Zuspätkommen um 4 3/4 Minuten ist, sei dahingestellt - und die Demonstration seiner
Überlegenheit durch den Portier bilden den Höhepunkt des Verhörs und verdeutlichen die
Hilflosigkeit Karls während desselben.
Insgesamt wird erkennbar, daß allermieseste Tricks, offene Folter und substiler
Psychoterror benutzt werden, um Karl am Schluß schuldig dastehen zu lassen.Ein kleiner
"Arbeitnehmer" kann also gegen seine Vorgesetzten nichts ausrichten. Er kann
sich nicht einmal entschuldigen, weil alle seine Aussagen zum Negativen hin ausgelegt
werden.
Seine nächste "Arbeitsstelle" tritt er bei Delamarche und Brunelda an.
Obwohl man seinen Aufenthalt dort nicht als Arbeit, sondern eher als
Domina-Sklavenverhältnis bezeichnen kann. Delamarche hat Karls Entlassung im Hotel
geplant. Er hat gewußt, was es für Konsequenzen haben würde, Robinson betrunken dorthin
zu schicken. Die Anstellung nimmt Karl auch gar nicht freiwillig an, sondern er wird dazu
gezwungen und erpreßt. Delamarche droht nämlich mit der Polizei, um sie über den
angeblichen Diebstahl im Hotel aufzuklären. Seine Fluchtversuche schlagen fehl, und so
muß Karl sich seinem Schicksal ergeben. Er wird erniedrigt, genau wie Robinson: Sie
müssen auf Bruneldas Anordnung hin auf dem Balkon schlafen, und beide dürfen erst
eintreten, wenn Brunelda läutet. Auf dem Balkon erfährt Karl, wie Robinson sich von
seinem angeblichen Delamarche und Brunelda behandeln läßt (ihm wurde sogar schon mit der
Peitsche ins Gesicht geschlagen
Ihr Verhalten insgesamt zeigt, wie schwierig es ist, sich vom Chef bestätigt zu fühlen
und immer genau so zu reden, wie er es von einem verlangt.
Bei seinem Fluchtversuch, wird Karl von Delamarche brutal zusammengeschlagen. Robinson
hilft ihm sogar dabei, obwohl er eigentlich zu Karl halten sollte, denn nur mit
Solidarität kann man sich gegen seinen Chef erheben.
Als er aufwacht, geht er auf den Balkon und sieht auf dem Nachbarbalkon einen
Studenten, mit dem er eine Unterhaltung beginnt. Dieser rät ihm, nachdem er von Karls
Dienerschaft erfahren hat, seine Stellung zu behalten, da er keine andere in Aussicht
habe. Er erklärt ihm, daß man bei der Auswahl der Herrschaften nicht wählerisch sein
dürfe und jedes Angebot, das man bekomme, annehmen solle. Er selbst sei während des
Tages niedrigster schlechtbezahlter Verkäufer, eher schon Laufbursche bei einem gewissen
Montly, der zweifellos ein Schurke sei, und nachts studiere er. Schlafen werde er erst,
wenn er sein Studium beendet habe. Montly wisse nicht einmal, daß es ihn gebe. Dieses
beweist abermals, wie unwichtig man seinen Vorgesetzten ist und daß man für sie nur ein
handelndes Objekt, aber kein Individuum ist, fast schon eine Maschine, die funktionieren
muß. Und dieser Posten sei der bisher größte Erfolg seines Lebens. Wenn er sich
zwischen Studium und Posten entscheiden müßte, würde er den Posten wählen.
Betont wird das harte Leben des Studenten noch durch die Hervorhebung des Kaffees, ohne
den er das gar nicht durchstehen könnte. Eigentlich müßte er sterben, so ganz ohne
Schlaf.
Eine Stellung bei Montly zu erhalten, sei schwieriger als Bezirksrichter zu werden, und
wie schwierig das ist, zeigt der Satz auf:" Er wird so prachtvoll durchfallen, als
man durchfallen kann."
Dieses Gepräch macht deutlich, daß man viel Glück haben muß, daß es eigentlich
unmöglich ist, überhaupt eine Stellung zu finden, egal wie trostlos sie auch ist.
So entschließt sich Karl dann auch, bei Delamarche und Brunelda zu bleiben. Ihm wird
schließlich sogar von dem Studenten dazu geraten, der Delamarche doch haßt und der
außerdem nichts von der Erpressung mit der Polizei weiß.
Nun strengt sich Karl noch mehr an, es Brunelda recht zu machen, muß aber auch erfahren,
daß zuviel Diensteifer auch schaden kann, als er das Bett schon machen will, obwohl es
ihm nicht befohlen worden ist.
Insgesamt wird aufgezeigt, daß Karl mit der kleinsten Arbeit in schlimmsten
Verhältnissen und mit geringstem Lohn schon zufrieden sein muß. Karl verkörpert die
Ohnmacht des Arbeiters oder Angestellten, der dazu gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu
verkaufen um zu überleben.
Worum es sich eigentlich bei dem Naturtheater handelt handelt,bleibt wie vieles andere in
diesem Roman in der Schwebe. Ist es ein Zirkus, ist es eine religiöse Gemeinschaft, ist
es eine Vorform der späteren Konzentrationslager, ist es eine gigantische
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme oder ist es der Eingang zum Paradies ? Das Naturtheater von
Oklahoma, in das Karl am Ende aufgenommen wird, ist eine Art Gegensatz zu allem vorher
Gewesenen . Die Chance angenommen zu werden bekommt jeder, aber man muß nach seinem
Glück greifen, man darf nicht darauf warten, daß es zu einem selbst kommt . Karl muß
sich seinen Weg selbst erfragen, ist hier aber, wie am Beginn des Heizerkapitlels, recht
mutig und hilft sogar noch anderen . "Leider verhält sich nicht jeder so
richtig" kommentiert der Theaterführer - das erste Mal, daß eine Autoritätsperson
Karl lobt . Seine anfängliche Unsicherheit und Skepsis beginnt zu schwinden, als er
merkt, daß die ihm gestellten Fragen unverfänglich bleiben. Im Gegensatz zu der
Böswilligkeit und dem Argwohn der Autoritätspersonen, die Karl bis dahin begegnet sind,
sind die Autoritäten des Naturtheaters freundlich, wohlwollend und geben den Menschen
wirklich eine Chance . Im Gegensatz zu seinen bisherigen Vorgesetzten, die ihm unangenehm,
fast intim , nahe gewesen sind und ihn bedrängt haben, sind die Führer des Theaters
ebenso unerreichbar wie auch gar nicht an Einmischung in Karls Leben interessiert. Sie
verharren auf ihrer Tribüne wie in einem Elfenbeinturm (S.313), während die einzelnen
Arbeiter in der Weite, dem riesigen Areal des Theaters verschwinden, fast absorbiert
werden. Das Theater als solches ist anonym und scheint nahezu grenzenlos zu sein; man
findet einander nicht wieder, es herrscht eine höhere, aber diesmal anscheinend gerechte
Ordnung, die für Karl allerdings undurchschaubar bleibt. Im Gegensatz zu früheren
Arbeitsverhältnissen, wo er nie gefragt und fast mit Gewalt zu einzelnen Tätigkeiten
gezwungen worden ist, wird ihm hier bereitwillig eine Tätigkeit zugeteilt, die er
wünscht und die zu ihm paßt. Im Gegensatz zur äußeren Welt werden die Arbeiter im
Theater nicht unterdrückt, sondern sogar fürstlich bewirtet. Fast scheint es, als wolle
Kafka das Buch mit einer Art Paradies, fast einem "American Dream" beenden :
Nach all den Widrigkeiten erwartet den geschundenen Einwanderer dann doch noch eine Art
Wunder. Außerdem kommt Karl zum ersten Mal mit der grenzenlosen Weite des Landes in
Berührung. Die Weite und Wildheit der Natur scheinen Karl seine Freiheit zurückzugeben.
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Betreuung: Doris Abi 98 Datum: Juli. 97 Letzte Änderung am 15 Feb 99
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