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Fächer  Deutsch  Plenzdorf

8.2 Edgars Sprache im Roman

Ulrich Plenzdorf lässt seinen "Helden" Edgar seine Geschichte in der ihm eigenen Sprache der Jugendlichen zu der Zeit der Entstehung des Romans erzählen. Dieser Jargon ist meiner Meinung nach ein Gegenentwurf zur Sprache der Erwachsenen.

Er ist Ausdruck einerseits für die Ablehnung ihrer Normen, Werte und Verhaltensweisen und andererseits des Bedürfnisses der Jugendlichen nach einer eigenen Sprache, die die eigenen Gefühle und Gedanken am besten vermitteln kann. Edgar formuliert einmal im Buch seine – vorübergehende – Verabsolutierung jugendlichen Verhaltens:

"Ich hab überhaupt mal gedacht, man dürfte nicht älter werden als siebzehn-achtzehn. Danach fängt es mit dem Beruf an oder mit irgendeinem Studium oder mit der Armee, und dann ist mit keinem mehr zu reden."

Die Sprache der Jugendlichen aller Länder ist in erster Linie gesprochene Sprache, da mit ihr ungezwungenes und nonkoformistisches Verhalten, besonders aber jede Gefühlsregung und Auf- und Abwertungen besser ausgedrückt werden können als in der förmlichen Schriftsprache. Um das zu verdeutlichen lässt Plenzdorf Edgar in direkte Kommunikation mit dem Leser des Romans treten. Das bewirkt, dass man als Leser ein fiktives Gespräch mit dem Protagonisten führt.

Deutliche Kennzeichen für diese erwähnte "Gesprächs-Sprache" sind u.a. folgende Beispiele:

"Und dieser Werther war... zigmal mit ihr allein. Schon in diesem Park. Und was macht er? Er sieht ruhig zu, wie sie heiratet. Und dann murkst er sich ab. Dem war nicht zu helfen."

Typisch für ein Gespräch Edgars ist die permanente Bezugnahme auf den Gesprächspartner. Aus diesem Grund redet er sein Publikum häufiger mehr oder weniger salopp an: "Ich war vielleicht ein Idiot, Leute!", "Leute, das konnte wirklich kein Schwein lesen."

Die Leser- bzw. Hörerbezogenheit des Gesprochenen wird auch dadurch erreicht, dass bereits Erzähltes wiederholt wird z.B.: "Ich sagte es wohl schon, dass ich väterlicherseits Hugenotte war" und "An Charlie lag mir was, aber das sagte ich wohl schon."

Signifikant für die Sprache von Jugendlichen ist oft eine gewisse Verunsicherung in bezug auf das eben Gesagte, die sich dann in offenen, unbestimmten Satzenden ausdrücken. Deshalb fügt Edgar seinen Sätzen oft "und das", "und die", "oder so" an, z.B.: "er sah aus wie dreißig oder so." – "An sich war er wohl aus Böhmen oder so." Solche Anhängsel findet man aber auch, wenn sich Edgar über ein bestimmtes Thema weiter auslassen will, wie z.B.: "Aber es soll keiner denken, ich hatte vor, ewig auf meiner Kolchose zu hocken und das." – "Ich hatte auch nichts gegen den Kommunismus und das (...)."

Durch solche Wendungen, die Edgar immer wieder im Roman gebraucht, fühlt sich der Leser bzw. Gesprächspartner mit ihm zusammengehörig: So braucht Edgar nicht näher ins Detail einer Sache zu gehen, weil sich der andere den Rest denken kann. Seine Übereinstimmung mit Edgars Meinung unterstellt er dem Zuhörer. Wenn sich Edgar im Jargon der normalen Jugendlichen äußert, so werden dadurch seine Erlebnisse und Erfahrungen in gewissem Maße fähig zur Verallgemeinerung: Man merkt als Leser, dass es sich nicht um das Einzelschicksal Edgar Wibeaus handelt, sondern dass dieses Einzelschicksal stellvertretend für das aller Jugendlichen steht, die die gleiche Sprache sprechen. Man kann also Edgars Jargon sowohl als individuell als auch als typisch bezeichnen: Ausgehend von dieser Annahme kann man also feststellen, dass er sein eigenes Wesen, Denken und Verhalten, aber damit zugleich das der Jugendlichen überhaupt kennzeichnet.

Unterstützt wird dieser Eindruck dadurch, dass Edgar im Laufe des Romans immer wieder einige Redewendungen benutzt, die ebenfalls typisch für den Jargon der Jugendlichen zu sein scheinen, die aber im Verlauf der Handlung immer stärker zum Ausdruck seiner Persönlichkeit werden. Um z.B. großes Missfallen und Opposition auszudrücken, sagt er u.a.: "Bloß es stank mich fast gar nicht an, wenn einer Wüstling (...) sein sollte, weil er lange Haare hatte."
Starke Gefühlsregungen versucht er ähnlich anschaulich auszudrücken: "Ich wurde fast nicht wieder Leute."– "Es ging mir doch mehr an die Nieren, als ich gedacht hätte."
Höchste Anerkennung drückt er damit aus, dass er z.B. sagt: "Kinder können wirklich malen, dass man kaputt geht."
Diese Wendungen gebraucht er nur im Zusammenhang von Musik und Malerei.

Auch für Überraschung, Begeisterung, Erregung jeder Art und Abneigung hat Edgar einen festen Vorrat an Wendungen parat. Ist er z.B. erstaunt sagt er: "Ich glaub – denk – mich streift ein Bus" oder ähnliches.

In eher brenzligen Situationen sieht er "ziemlich alt aus". Aber man hat ständig den Eindruck, dass ihn fast nichts aus dem Gleichgewicht bringen kann. In allen Situationen scheint er sich größtenteils überlegen verhalten zu können. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch seine Gewohnheit, sich als jemanden zu bezeichnen, der schnell begreift und seine Lage souverän einschätzen kann: "Ich begriff das sofort." – "Ich begriff doch, was das heißen sollte." – "Ich wußte das." – "Ich wußte, was ich zu tun hatte." – "Mir war klar." – "Das kannte ich."

Zu diesem Selbstbild Edgars, des überlegenen, mit jeder Situation fertig werdenden jungen Mannes gehört auch, dass klare Überlegenheit sein Tun bestimmt, weshalb er mehrfach sagt: "Ich analysierte mich kurz und stellte fest."

Diese, meiner Meinung nach gespielte, Überlegenheit, die Edgar ausstrahlt, wird einmal relativiert durch seine Selbstkritik und –ironie, zum anderen aber auch durch Widersprüche, in die er sich von Zeit zu Zeit verwickelt. So sagt er z.B.: "Ich konnte nicht besonders gut tanzen, jedenfalls nicht öffentlich. Ich meine. Dreimal so gut wie jeder andere konnte ich es immer noch (...). Ich glaube, ich war echt begabt zum Tanzen." In einer anderen widersprüchlichen Bemerkung spiegeln sich auch gesellschaftliche Widersprüche:

"Ich war zwar Pazifist, vor allem wenn ich an die unvermeidlichen achtzehn Monate dachte. Dann war ich ein hervorragender Pazifist. Ich durfte bloß keine Vietnambilder sehen und das. (...) wenn dann einer gekommen wäre, hätte ich mich als Soldat auf Lebenszeit verpflichtet."

Das hierbei nachgeschobene "Im Ernst" betont Edgars Anspruch auf Ehrlichkeit, der oft seine Selbstreflexion auslöst.

"Aber ich hab es auch nicht ehrlich gemeint, daß du (Willi) dableiben solltest. Ich meine, ehrlich schon. (...) Aber wirklich ehrlich nicht. Wenn einer sein Leben lang nie echt allein gewesen ist (..), dann ist er vielleicht nicht ganz ehrlich."

Eine andere auffällige Besonderheit von Edgars Sprache ist ihre Komik. Sie entsteht durch die für Jugendliche typischen Wortspiele und Wortneuschöpfungen: "Anschließend fühlte ich mich wie Robinson Crusoe und Satchmo auf einmal. Robinson Satchmo." – Der Tankwart "war von dem Typ: Wer-bezahlt-mir-den-Kanister-wenn-er-weg-ist?". Einen komischen Effekt haben auch die besagten Wiederholungen: "Schade war bloß, daß ich nicht sehen konnte, wie Old Willi umfiel. Der fiel bestimmt um. Der kriegte Krämpfe. Der verdrehte die Augen und fiel vom Stuhl." – "Trotzdem war das natürlich kein Grund, olle Flemming die olle Platte auf seinen ollen Zeh zu setzen."

Dieses Beispiel zeigt auch zugleich sehr gut die komische Wirkung, die durch den Gebrauch bestimmter Adjektive hervorgerufen wird: "Olle" ist neutral und wird mit allem und jedem verbunden, hat aber nichts mit dem Alter zu tun. Edgar stellt es Namen voran, wodurch ebenfalls eine komische Wirkung entsteht, z.B. "Old Werther". Das ist hier eine klare Anspielung auf die Figuren von Karl May, wie z.B. "Old Firehand" oder "Old Surehand" und bedeutet, dass Karl May-Lektüre Goethes Werken vorgezogen wird. Edgar verwendet auch andere Ausdrücke, die er dem Englischen entnimmt, um seine souveräne Lässigkeit und vor allem Modernität zu signalisieren. So ist er z.B. "high", "jumpte", hält eine "Speech" und trägt seinen "Bluejeans-Song" vor. Das zeigt auch, dass er sich nicht an den russischen Vorbilder, die ihm der Staat aufdrücken will, orientiert, sondern an denen des Westens.

Die Adjektive "echt" und "edel" dienen in Edgars Sprachgebrauch der positiven Bewertung, z.B. "Zaremba war edel.", Salinger "ist ein edler Kerl" und, was er geschrieben hat, "ist echt, Leute". Edgar benutzt aber auch positive Adjektive im negativen Kontext seine Aussagen zu ironisieren. So gebraucht er z.B. "hervorragend" in der Filmkritik des Lehrfilms mehrmals, um seine negative Einstellung auszudrücken.

Kennzeichnend für den Jargon der Jugendlichen ist die drastische Ausdrucksweise. Ohne sie wäre Edgars Sprache für den Leser unglaubwürdig. Sehr oft benutzt er deshalb Ausdrücke wie "kein Aas", "kein Schwein", "ach du Scheiße" und "Arsch". Letzteren verwendet er auch als Teil einer Redewendung z.B. "Ach, der arme Arsch", "ich riß mir den halben Arsch auf". Das macht auf den Leser den Eindruck, dass Plenzdorf seinen Helden gerade auf diese Weise sprechen lässt, um ihn in seiner Individualität und Protesthaltung gegenüber den Erwachsenen zu charakterisieren, stellvertretend für alle anderen Jugendlichen.

Ein weitere Besonderheit in Edgars Sprache ist das "Althochdeutsch"( etwa 750 bis 1100), wobei Zaremba "der erste war, den dieses Althochdeutsch nicht aus dem Sattel warf". So zumindest kommentiert Edgar selbst die Reaktion seines Arbeitskollegen auf ein verwandtes Zitat aus dem "Werther", wobei sich bei der Zuordnung der Sprache irrt, da der Text nicht "vor drei Jahrhunderten" verfasst worden ist, sondern in der Literaturepoche des "Sturm und Drang" (etwa 1770 bis 1790), die dem Verstandskult der Aufklärung Herz und Gefühle gegenüberstellt und die natürliche Gesellschaftsordnung für den natürlichen Menschen anstrebt.

Goethe verwendet sie, um die Gefühle Werthers zu verdeutlichen. Aber die Montage von Textelementen dieser hohen Stilebene in einen Text in der Sprache eines Jugendlichen hat für den Leser einen komischen Effekt: Man hat sich nämlich auf eine saloppe, ziemlich undifferenzierte Art der verbalen Mitteilung eingelassen und an sie gewöhnt, identifiziert sich möglicherweise mit ihr und wird plötzlich mit einer überaus differenzierten, stilisierten und pathetischen Ausdrucksweise konfrontiert, die sich zum Teil Begriffen und Redewendungen bedient, die heute eine andere Bedeutung haben oder gar nicht mehr verwendet werden. So hat er Verständnis für Edgars Reaktion, wenn dieser sich im Zusammenhang mit einem Zitat über den Begriff "Grenzen der Menschheit" amüsiert, unter dem es "Old Werther" nicht mache.Er weiß nicht, dass mit diesem Begriff die Begrenzung des Menschen durch seine individuelle Natur gemeint ist. Möglicherweise versteht auch der Leser mit Edgar nicht, was es "mit ehrlich zu tun" hat, wenn Albert Lotte nicht in Anwesenheit Dritter küßt. Er kann die alte Bedeutung von ehrlich nicht wissen. Sie bedeutet nämlich, dass man auf die Verhaltensnormen der Gesellschaft Rücksicht nimmt.

Hinter diesem komischen Effekt, den die Zitate bewirken, erkennt der aufmerksame Leser, der sich auch auf die Sprache der Zitate einlässt und vielleicht auch noch das Original kennt, dass sie zwar ein Mittel zur Selbsterfahrung Edgars und zur Gesellschaftskritik, nicht aber eine Möglichkeit zur Kommunikation bieten, wie man an der Reaktion seiner Kollegen und Dieters auf die Zitate erkennen kann. Der Leser kommt aber nach einiger Zeit zu der Einsicht, dass Edgar vielleicht sogar mit dem Nicht-Verstehen der Partner rechnet und sie provozieren will. Provokation schließt dann aber das Gelingen von Kommunikation aus.

Wer ist denn nun der Adressat dieser Retrospektive?

Edgars Gesprächspartner, die "Leute", sind in erster Linie die Leser, und zwar die Jugendlichen. Die saloppe Sprache des Textes begünstigt die Aufnahme des Romans bei der jungen Generation, bei Edgars Altersgenossen. Diese Jugendlichen können den Eindruck gewinnen, dass hier jemand in einer Sprache über seine Gefühle, Probleme mit sich selbst und der Gesellschaft und Erfahrungen redet, die auch sie benutzen. So kann sich der Leser mit dem Sprecher identifizieren oder ihn aber auch kritisieren, man ist auf jeden Fall in den Kommunikationsprozess eingebunden.

Dass es sich dabei um die DDR-Variante des Jugendjargons handelt, wird durch den Gebrauch einiger Begriffe und Abkürzungen aus dem DDR-Alltag deutlich, die die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln, z.B.: "Brigade" (Arbeitskolonne), "VEB" (Volkseigener Betrieb), "VP" (Volkspolizei) u.a., was aber der Identifikation mit Edgar keineswegs abträglich ist. Sieht man von diesen sprachlichen Besonderheiten ab, lassen sich wenige Unterschiede zur Sprache der Jugend von heute feststellen, wenn auch mittlerweile wegen der Kurzlebigkeit dieser Art Sprache Veränderungen eingetreten sind – und Plenzdorf meiner Meinung nach den Jargon etwas überzogen hat, um die dargestellte Wirkung erzielen zu können.



obenAutor: Eike M., Christoph M., Philipp M., Deutsch-LK Müller  Datum: April 2000, Letzte Änderung am 14. März 2001
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