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Fächer Deutsch Plenzdorf |
Dinge wie Bluejeans, lange Haare und Popmusik sind für Edgar Ausdruck seines individuellen Protests gegen die streng reglementierte und organisierte Welt der Erwachsenen, wie seiner Mutter oder seines Meisters Flemming, und einer jugendlich unbekümmerten Lebensweise und -haltung, persönlicher Freiheit und Unangepasstheit gegen die Verhältnisse, denen man sich anpassen soll, mit denen man sich aber nicht identifizieren kann. Für SED und FDJ sind diese Verhaltensweisen zum Zeitpunkt der Entstehung des Romans deutliche Zeichen einer westlich-kapitalistischen Denk- und Lebensweise, die zu bekämpfen ist.
Allerdings sind Partei und FDJ seit Mitte der 70iger Jahre bemüht, die Orientierung an westlichen Vorbildern einerseits stärker in ihrer Politik zu berücksichtigen, ihr andererseits aber auch durch verstärkt eigene Angebote entgegenzuwirken. Dies ist besonders auffällig im Bereich der Popmusik zu beobachten, aber auch auf dem Gebiet von Kleidermode ist man redlich bemüht die neuen Trends aus dem Westen, wenn auch meist mit großer zeitlichen Verzögerung, aufzugreifen, wobei das Angebot aber meist unzureichend bleibt. Das lange Anstehen nach "echten Bluejeans" im Roman veranschaulicht diese Situation.
Für seine nonkonformistische Haltung spricht auch Edgars distanzierte Äußerung über die Wehrpflicht: "Ich war Pazifist, vor allem, wenn ich an die unvermeidlichen achtzehn Monate dachte. Dann war ich ein hervorragender Pazifist".
Von der SED wird die Ableistung der allgemeinen Wehrpflicht nicht nur als Erfüllung einer allgemeinen Grundpflicht des männlichen Bürgers gesehen, sie soll darüber hinaus auch der Fortsetzung der Einübung in grundlegende Lebens- und Arbeitsdisziplin dienen.
Zur Gewöhnung an gesellschaftliche Arbeitsdisziplin und Leistungsbereitschaft, vor allem aber auch zum Einstudieren loyalen, d.h. sozialistischen Bewusstseins soll auch die Literatur einen entscheidenden Beitrag leisten, die von Jugendlichen gelesen werden soll. Die Autoren sollen durch ihre speziell für die Jugend geschriebene Literatur die allgemeinen Erziehungsziele aufnehmen und erzählerisch gestalten.
Edgar aber liest andere Bücher, wie Salingers "Der Fänger im Roggen" und Goethes "Werther", die beide das Scheitern des Einzelnen, des Außenseiters, an der Gesellschaft zeigen, und "Robinson Crusoe", der die Isolation des Einzelnen von der Gemeinschaft schildert und sie seinen Lesern empfiehlt. Das bedeutet eine deutliche Distanzierung von der staatlich empfohlenen Literatur.
Der zwar nur zeitweilige Ausstieg Edgars aus der Gesellschaft durch seine Flucht nach Berlin, seine offensichtliche Sehnsucht nach Freiheit und sein Rückzug in die private "Nische" seiner Laube ist in der DDR nicht seine Privatangelegenheit, sondern bedeutet, dass Edgar gesellschaftspolitisch gesehen einen Verrat an der Gesellschaft selbst und an ihren sozialistischen Idealen, besonders an der gesetzlichen Verpflichtung zur Arbeit begangen hat.
Die Arbeit hat im Staat der SED eine größere Bedeutung als in der Bundesrepublik. Der Art. 24 der DDR-Verfassung verpflichtet jeden "arbeitsfähigen Bürger" zu "gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit". Diese überaus große Bedeutung der Arbeit erklärt sich aus der sozialistischen Ideologie heraus: Nur durch Arbeit kann der Mensch alle seine Anlagen und Fähigkeiten entwickeln, sein "kulturelles, technisches und allgemeines Bildungsniveau" erhöhen und zum Wohle der Gemeinschaft einsetzen, damit seine eigene Weiterentwicklung zur "sozialistischen Persönlichkeit" vorantreiben und seinen Beitrag zur "Gestaltung der entwickelten, sozialistischen Gesellschaft" leisten.
Andererseits stellt Edgars konsequenter Rückzug aus der Gesellschaft auch eine sehr deutliche Kritik an dem ihm unmittelbar nahen, gesellschaftlichen Repräsentanten (Mutter als "Leiterin" und der Lehrlingsausbilder Flemming) dar, die unfähig sind, den Jugendlichen in die Gemeinschaft des Sozialismus zu integrieren. Diese Verantwortung der Gesellschaft dem Einzelnen gegenüber wird deutlich, als die Malerbrigade Edgar nach seinem Rausschmiss wieder zurückholt. Unter dem Motto "Gemeinsam sozialistisch arbeiten, lernen und leben" ist der einzelne Beschäftigte in der DDR in sogenannten "Brigaden" (Arbeitsgruppen, Teams) eingegliedert, deren Mitglieder miteinander arbeiten, sich füreinander verantwortlich fühlen, sich aber auch kontrollieren und miteinander bei der Erfüllung des Arbeitsplans im Wettbewerb stehen. Im Kollektiv der Brigade nimmt man an politisch-gesellschaftlichen Veranstaltungen teil, bildet sich auch im Beruf fort, feiert gemeinsam und hilft sich sogar bei privaten Problemen.
Edgars Rauswurf aus der besagten Brigade ist also deshalb Ausdruck des Versagens der Brigade als Einrichtung der "sozialistischen Gesellschaft" dem einzelnen Arbeiter gegenüber, der ihre Hilfe nötig hätte. Daher erklärt sich auch die überaus deutliche Selbstkritik Addis nach Edgars Tod.
Deshalb verheimlicht Edgar wohl auch seine Arbeit an der Farbspritze. So werden Bereitschaft und Fähigkeit zu Selbst- und Mitverantwortung in dieser Gesellschaft oft vernichtet, bevor sie sich überhaupt entwickeln können.
Ausdrücklich bekennt sich unser Protagonist im gleichen Zusammenhang zu ihnen, indem er den pedantischen Dieter kritisiert:
"Ich hatte nichts gegen Lenin und die. Ich hatte auch nichts gegen den Kommunismus und das, die Abschaffung der Ausbeutung auf der ganzen Welt. Dagegen war ich nicht. Aber gegen alles andere. Daß man Bücher nach der Größe ordnet zum Beispiel. Den meisten von uns geht es so. sie haben nichts gegen den Kommunismus. Kein einigermaßen intelligenter Mensch kann heute was gegen den Kommunismus haben. Aber ansonsten sind sie dagegen."
Dieser Aussage zufolge leiden Edgar und die "meisten" seiner Altersgenossen in der DDR also nicht an der eigentlichen Theorie des sozialistischen Systems, sondern ihren Auswirkungen in der Praxis, im real existierenden Sozialismus, also im unmittelbaren Alltag der Jugendlichen, in der DDR-Wirklichkeit.
Mit dieser Differenzierung und dem überaus ausdrücklich positiven Bekenntnis zum Kommunismus relativiert meiner Meinung nach Plenzdorf seine Gesellschaftskritik. Zusätzlich wird sie aus meiner Sicht durch weitere drei Punkte entschärft:
Trotz diesen Abschwächungen geht die Kritik, die der Autor hier äußert, im allgemeinen die an den gesellschaftlichen Verhältnissen der DDR und im besonderem die am realen Sozialismus, der den einzelnen Bürger und besonders den Jugendlichen daran hindert seine Individualität zu entwickeln und zu leben, bis an das Äußerste, was dem politischen System der DDR zur Zeit der Veröffentlichung zumutbar war.
In dem Buch wird das erste Mal literarisch formuliert, was die offizielle Ideologie, die Institutionen und die Funktionäre zu verdrängen und zu ignorieren versuchten: Dass sich die Welt der Erwachsenen in der DDR schon meilenweit von der der eigentlichen "Schrittmacher" des Staates, den Jugendlichen, entfernt hat und umgekehrt die Welt der Jugendlichen von der der Erwachsenen entfernt in einer Subkultur entwickelt hat - und, das ist ganz wichtig, dass ein erheblicher Unterschied zwischen der eigentlichen Theorie und der alltäglichen Praxis des Sozialismus besteht.
Autor: Eike M., Christoph M., Philipp M., Deutsch-LK Müller
Datum: April 2000, Letzte Änderung am
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