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Fächer  Deutsch  Plenzdorf

10. "Die neuen Leiden des jungen W." vor dem Hintergrund der kulturpolitischen Neuorientierung

Um die Reaktionen auf "Die neuen Leiden des jungen W." nachzuvollziehen, ist es notwendig, die Frage zu stellen, an welchen Stellen der Realität Plenzdorf - wenn überhaupt - Kritik übt.

Ganz grundsätzlich ist die These abzulehnen, dass er an den Grundlagen des Sozialismus zweifele, indem er in Edgar eine Figur zeichne, die sich nur im Alleingang verwirklichen könne. Diese Lesart wird dadurch ausgeschlossen, dass das Loslösen vom Kollektiv und das Alleingängertum Edgars in der Handlung zu seinem Tod führen. Eine grundlegende Wahrheit des Sozialismus, dass das Individuum nichts ohne die Gesellschaft sei, wird somit bestätigt.

Dass Plenzdorf keine Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft angreift, wird darüber hinaus an den Veränderungen deutlich, die er an Goethes Roman vorgenommen hat. Durch die schon beschriebene Verschiebung der Erzählstruktur hin zur Retrospektive, macht Plenzdorf eine andere Aussage bezüglich der Gesellschaft. Indem Werthers Tod tragisch und unvorhergesehen eintritt, wird die Gesellschaft allein für diesen verantwortlich gemacht. Insofern übt Goethe essentielle Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Plenzdorf jedoch gestaltet den Tod Edgars untragisch und lässt diesen sich selber rückblickend kritisch betrachten. Im Zuge dessen übt Edgar sowohl Kritik an seinem eigenen Verhalten als auch an Mechanismen der DDR-Gesellschaft. Ulrich Plenzdorf proklamiert also nicht die Untauglichkeit der sozialistischen Gesellschaft, sondern stellt in der Synthese aus der Funktion als Analogie und Folie des literarischen Erbes vielmehr fest, dass innerhalb der DDR-Gesellschaft ein Problem existiert.

Die Natur dieses Problems wird unter anderem in Edgars Verhalten in der Phase der Selbstversenkung deutlich. Während diese Phase bei Goethe Ausdruck von Werthers Resignation ist, zieht Edgar sich zu dem Zweck zurück, eigenständig an seiner Idee für ein NFG zu arbeiten. Die Motivation für Edgars gesamtes Abenteuer ist also der Wunsch nach Eigenständigkeit und Selbstbestätigung. Er rebelliert gegen Lehr- und Erziehungsmethoden, gegen Bevormundung durch den Staat und gegen Klischees, wie zum Beispiel das des "Musterknaben", das ihm anhaftet, indem er sagt, er habe es satt, als Beweis dafür herumzulaufen, dass man einen Jungen auch sehr gut ohne Vater aufziehen könne. Frei von diesen in seinen Augen hemmenden Einflüssen will er seinen eigenen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Plenzdorf thematisiert also das Problem der Jugend, sich in der sozialistischen Gesellschaft zu verwirklichen. Hierbei kritisiert er Institutionen und Normen, die den Jugendlichen auf eine Rolle innerhalb der Gesellschaft festzulegen suchen, ohne sein individuelles Streben zu berücksichtigen. Kritikpunkt ist also ein gesellschaftlicher Überbau, der von der Aufbauphase der DDR geprägt ist und der gesellschaftlichen Realität im gefestigten sozialistischen Staat nicht mehr gerecht wird. "Die neuen Leiden des jungen W." ist somit ein repräsentatives Werk der DDR-Literatur am Anfang der siebziger Jahre insofern, als dass es Probleme innerhalb der "entwickelten sozialistischen Gesellschaft" thematisiert.

Darüber hinaus erhielt das Werk große Resonanz innerhalb der DDR-Öffentlichkeit durch die Art der Darstellung. Trotz der Struktur der Erzählung, aufgrund derer sich die Eindrücke Edgars mit denen seiner Mutter, Charlies, Willis und Addis ergänzen, bleiben die Ansichten Edgars dominant. Die so geschaffene Subjektivität der Erzählung steht im Widerspruch zu dem Anspruch des sozialistischen Realismus, Zusammenhänge objektiv darzustellen. Durch den naturalistisch verwendeten Jugendjargon beim Vortragen dieser subjektiven Eindrücke wirken diese noch provokativer. Der subjektive Standpunkt mache es dem Zuschauer - besonders dem Jugendlichen - leichter sich in die Problematik einzufühlen (Weimann), während gleichzeitig die Einseitigkeit der Betrachtungen dazu auffordert, Stellung zu nehmen bzw. Kritik zu üben. "Die Provokation fördert die Produktivität des Stückes" konstatiert Wolfgang Kohlhaase in einer in "Sinn und Form" veröffentlichten Diskussion. Mit diesem Anspruch an den Zuschauer, für sich zu einer Lösung zu kommen, die im Stück nicht angeboten wird, kann sich Ulrich Plenzdorf auf Bertolt Brechts Theorie des epischen Theaters berufen. Brecht vermeidet in seinen Inszenierungen die Darstellung einer Synthese auf der Bühne, sondern lenkt den Zuschauer vielmehr dazu hin, diese selber für sich zu bilden. Die aktive Rolle, die dem Zuschauer so abverlangt wird, soll für ein größeres Maß an Einsicht und Einprägsamkeit sorgen. Wenn auch Plenzdorf dem Zuschauer keine eindeutige Synthese, die die Lösung des Problems darstellt, anbietet, so fordert er aber auf jeden Fall zur geistigen Aktivität des Zuschauers und zur Auseinandersetzung auf.



obenAutor: Eike M., Christoph M., Philipp M., Deutsch-LK Müller  Datum: April 2000, Letzte Änderung am 14. März 2001
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